
Samira sitzt vor dem Fernseher, denn sie will Ärztin werden. „Ich schaue mir Sendungen an und versuche aus Gesten und Mimik abzulesen, was die Personen gesagt haben könnten“, erzählt sie in ihrer Muttersprache. Mühsam sei das.
Samira wird vermutlich nie Ärztin werden. Sie ist 15 Jahre alt – und noch immer Analphabetin. In Afghanistan hatten ihr die Taliban verboten, in die Schule zu gehen. In Österreich hat sie keine Möglichkeit dazu. Sie ist nicht mehr schulpflichtig, und dort, wo Samira gerade wohnt, gibt es keinen Deutschkurs. Mit ihrer Mutter und ihren drei Geschwistern ist sie aus ihrer Heimat geflohen. Sechs Monate lebt die Familie schon über der Wirtsstube eines Gasthauses am Rande eines kleinen Dorfes namens Bromberg in Niederösterreich und wartet auf eine Entscheidung der Asylbehörden.
Es ist ein heißer Sommertag, an dem wir Samira treffen. Das Mädchen ist in einem Asylquartier untergebracht. Wir wollen dokumentieren, wie Asylsuchende in Österreich wohnen und leben. Wir wollen wissen, wie es ihnen geht. Was bekommen sie zu essen? Wie behandelt man sie? Wir wollen auch wissen, wie von den Betreibern der Quartiere mit Steuergeld umgegangen wird. Maximal 19 Euro bekommen sie für Unterbringung und Verpflegung – pro Tag, pro Asylwerber. Sie müssen darum auch Putzmittel, Handtücher oder Bettwäsche besorgen, die Dinge des täglichen Lebens. Es ist nicht viel Geld. Was dafür geboten wird, wusste bislang niemand. Um die harte Realität von Asylwerbern und ihren Unterkunftgebern zu erkunden, haben wir uns im niederösterreichischen Aspang eine kleine Basis eingerichtet. Hier wohnen wir für eine Woche, dann ziehen wir weiter. Zusätzlich zum Ausfüllen unserer Kriterienkataloge wird abends das Erlebte auf Diktiergerät gesprochen.
8. August 2013. Code NÖ51 in Bromberg. Wir kommen hin. Das Gasthaus ist ziemlich abgelegen. Es gibt rundherum genau nichts. Man fährt sogar aus Bromberg raus, vier bis fünf Minuten, dann kommt erst das Gasthaus. Wir haben ein bisschen weiter weg geparkt und sind dann zu Fuß zur Unterkunft …



So beginnt unser Gedächtnisprotokoll zu jenem Quartier, in dem Samira wohnt. Sie schaut jetzt aus dem Fenster und sieht uns. Pantomimisch erklärt sie uns, dass wir heraufkommen sollen; Samiras Familie freut sich, endlich wieder mit Besuchern auf Farsi, ihrer Muttersprache, sprechen zu können. Später werden unsere subjektiven Eindrücke und die Auswertung jener Fragebögen, mit denen Asylsuchende immer auch standardisiert befragt wurden, ein Bild der jeweiligen Unterkunft ergeben: In Samiras Unterkunft scheint es einen „freundlichen“ Betreiber zu geben, auch das Essen dürfte passen. Einzig kleinflächiger Schimmel in der Dusche, die abgeschiedene Lage und die fehlenden Deutschkurse sind hier negativ zu bewerten.
„DOSSIER: Asyl“ heißt unsere journalistische Untersuchung des österreichischen Asylsystems. Wir haben den Fokus auf die Versorgung jener Menschen gelegt, die hierzulande um Schutz vor Verfolgung bitten. „DOSSIER: Asyl“ hieß monatelang eigentlich „Indien“. Ein Codename, der es uns erleichtern sollte, Dinge geheim zu halten. Im gleichnamigen Film fahren Josef Hader und Alfred Dorfer durch die Weiten Niederösterreichs und kontrollieren im Auftrag des Landes Gasthäuser auf Einhaltung von Hygienebestimmungen. Wir hatten keinen Auftrag. Wir nahmen von Wirten keine Dopplerflaschen Wein, um in die andere Richtung zu blicken, wenn etwas nicht passt.
Oft wäre das gar nicht nötig gewesen. Denn wir haben viel Gutes gesehen. Wir haben Lehrer getroffen, die in ihrer Freizeit unentgeltlich Deutschkurse anbieten. Wirte, die Kindern Spielzeug kaufen. Betreiber von Unterkünften, die Asylwerber nachts mit dem Auto aus der nächsten Stadt abholen, wenn sie den letzten Bus verpasst haben. Eine Wirtin, die über die jungen Afghanen, die bei ihr wohnen, sagt: „Das sind meine Burschen. Und ich bin die Mama.“ Wir haben aber auch die andere Seite gesehen: zerfetzte Matratzen. Schimmel in Bädern und in Schlafzimmern. Kinder, die am Boden schlafen müssen. Die Kakerlakenspezies „deutsche Schabe“. Menschen, die bis zum nächsten Lebensmittelgeschäft zwei Stunden zu Fuß gehen müssen. Männer, die sagen: „Man behandelt uns wie Tiere.“
Das kam nicht unerwartet. Immer wieder waren in Zeitungen Berichte über grobe Missstände in Unterkünften erschienen. Zur landesweiten Bekanntheit brachte es die Saualm in Kärnten, der mediale Prototyp eines verwahrlosten Asylheims.
Hoch oben in den Lavanttaler Alpen wurden Strom und Heizung rationiert und den Menschen verdorbenes Essen aufgetischt. Ein Einzelfall? Im April 2013 haben wir die Idee zu „DOSSIER: Asyl“ erstmals aufgeschrieben. Drei Monate lang haben wir uns vorbereitet und die Recherche geplant, Gesetze gelesen, Informanten getroffen, Adressen recherchiert. Wir haben uns entschieden, drei andere Bundesländer zu untersuchen, um einen Querschnitt zu bekommen, um die wahren Verhältnisse sichtbar zu machen. Schließlich standen 98 Asylunterkünfte im Burgenland, in Niederösterreich und in Salzburg auf der Liste. Unsere Ergebnisse haben wir kartografiert, mit Filmen, Gutachten und Fotos veröffentlicht.
Unser Außenteam arbeitete verdeckt und mit versteckter Kamera. Ohne sich anzumelden, ohne um Erlaubnis zu fragen, weder bei den jeweiligen Wirten noch bei der jeweiligen Landesregierung. 79 ausgefüllte Fragenkataloge, 4247 Fotos, rund 56 Stunden Videomaterial und 209 geführte Interviews später ließen sich Statistiken erstellen und, ähnlich einer wissenschaftlichen Arbeit, auswerten: In rund einem Drittel der untersuchten Asylquartiere herrschen grobe Missstände. Die Räume sind verschimmelt. Zum Abendessen wird eine Thunfischdose mit zwei Semmeln angeboten.
Vieles von dem, was wir erlebt haben, passt schwer in einen Datensatz. Asylwerber in einem Quartier in Niederösterreich erzählten uns, die Betreiberin ihrer Unterkunft habe sie stets mit dem Wort „Schwein“ angesprochen. Anfangs konnten die Männer aus Afghanistan kein Deutsch. Sie hielten die Anrede der Betreiberin für eine Begrüßungsfloskel. „Schwein!“, grüßten sie freundlich zurück.
Wir stießen aber nicht nur auf Betreiber, die den eigenen Profit über das Wohl ihrer Bewohner stellen. Wir dokumentierten auch das Versagen der Behörden. Im Burgenland etwa hatte die Volksanwaltschaft schon Mitte Juli ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt: „Zusammenfassend ist festzuhalten, dass geprüfte Quartiere zahlreiche Mängel wie z.B. starken Schimmelbefall, untragbare Sanitärräume, sicherheitsgefährdende Infrastruktur, Ungeziefer etc. aufwiesen.“ Immer wieder hatten NGO-Vertreter auf diese Missstände hingewiesen.
In Niederösterreich steht es ähnlich: In einem ausrangierten Gasthof im beschaulichen Grimmenstein wohnen rund 40 Asylwerber über einer Bäckerei. Die Toiletten und Duschen der Unterkunft sind verdreckt, die Matratzen durchgelegen. Als wir das Gebäude am 5. August betreten, hängen lose elektrische Leitungen aus der Wand. Bei unserem zweiten Besuch Mitte Oktober ist die Küche nach wie vor von Schimmel befallen. Wir zogen Peter Tappler, Gerichtssachverständiger für Schimmelbefall in Innenräumen, zu Hilfe. Sein Urteil: „Die Räume sollten aufgrund akuter Gesundheitsgefährdung bis zu einer fachgerechten Sanierung nicht mehr benutzt werden.“ Die Konzentration an Schimmel in der Raumluft war um das Sechsfache höher als jene in der Außenluft. Schimmel kann zu Infektionen, Reizungen oder gar zu asthmatischen Erkrankungen führen, wie uns Umweltmediziner Hans-Peter Hutter erzählt. Die Missstände in Grimmenstein waren vor unseren Besuchen bekannt. Alle zwei Wochen kommen Mitarbeiter der Caritas in diese Unterkunft. Ihnen war nicht nur Schimmel aufgefallen, sondern auch „Brandlöcher im Teppichboden und Sperrmüll in der Dusche“, zitiert Klaus Schwertner, Generalsekretär der Caritas Wien, einen Bericht seiner Mitarbeiter.
Zum Teil gibt es keine Betten, die Menschen schlafen auf dem Boden. Wir haben schon mehrmals darauf hingewiesen.
Die humanitäre Hilfe der Bedürftigen steht bei uns im Vordergrund
Niederösterreichs verantwortliche Landesrätin Elisabeth Kaufmann- Bruckberger, (Team Stronach)
Die Landesregierung wusste von den Missständen. Passiert ist nichts. „Eine zuletzt mit (…) Caritas und Diakonie durchgeführte Gesamtschau ergab, dass nur bei einer geringen Anzahl an Quartieren diverse Mängel festgestellt wurden, die aber ebenfalls rasch beseitigt wurden oder die notwendigen Arbeiten derzeit stattfinden“, schreibt Hermann Priller, Büroleiter der zuständigen niederösterreichischen Landesrätin Elisabeth Kaufmann-Bruckberger (Team Stronach), in einem E-Mail. Zu einem Interview waren bisher weder sie noch andere Verantwortliche im Land bereit. Niederösterreich setzt die Quartierbetreiber massiv unter Druck, über Missstände zu schweigen: Sie dürfen nur nach Genehmigung des Landes mit Journalisten sprechen – unter Androhung, sonst ihren Vertrag zu verlieren. Das schüchtert ein und führt zur paradoxen Situation, dass es sogar Betreiber von Vorzeigeunterkünften nicht wagen, mit uns zu sprechen.
Man muss genau schauen, ob ein Quartier den Anforderungen entspricht
Salzburgs zuständige Landesrätin Martina Berthold (Grüne)
Alle drei untersuchten Bundesländer kommen ihrer Verantwortung bei der Kontrolle von Asylheimen kaum nach: In Niederösterreich nahm man die Meldungen der Caritas nicht ernst. In Salzburg führten Personaleinsparungen in der Landesverwaltung zu Kontrollversagen. Im Burgenland blieben schwere Missstände jahrelang unbeachtet. Seit 2004 muss jedes Bundesland eine nach der Einwohnerzahl festgelegte Quote von Asylwerbern unterbringen. Bis heute erfüllen nur zwei Bundesländer, Wien und das Burgenland, ihre Quoten.
Die öffentliche Diskussion drehte sich bis jetzt höchstens um die Erfüllung der Quote, nicht aber um die Qualität der Unterbringung. „Wir sind froh, dass wir die Quartiere in diesem Ausmaß überhaupt halten können“, klagt etwa Franz Erwin Eiersebner, Leiter der Grundversorgungsstelle in Salzburg. Wer also Betreiber und Herbergen streng nach Eignung auswählt, steht am Ende vielleicht mit weniger Unterkünften da – und könnte sich von der Quotenerfüllung noch weiter entfernen.
Eine Zwickmühle, die dazu führt, dass viele Betreiber von Asylquartieren sichtbar überfordert sind. Da gibt es etwa diese Wirtin in Salzburg, die seit Jahren Asylsuchende aufnimmt, weil sie ihre abgewohnten Quartiere nicht mehr für den Tourismus nutzen kann. Zurzeit wohnen ausschließlich junge Männer aus Afghanistan in ihrer Pension. Die 68-Jährige spricht nur Deutsch, kann sich mit den Burschen nicht verständigen, schimpft über ihre Unordnung, sagt, „das hier ist Österreich, das sind andere Verhältnisse“. Die Asylwerber sagen, die Wirtin schreie sie ständig an, sei launisch und reiche ihnen verschimmeltes Brot.
Man kann den Männern vorwerfen, sie benehmen sich nicht. Man kann der Wirtin Fremdenfeindlichkeit attestieren. Man kann aber auch die Frage stellen, warum die zuständige Landesbehörde jahrelang junge Männer mit völlig anderem kulturellem Hintergrund zu einer älteren Frau aufs Land schickt. „Wir sind froh, dass wir die Leute irgendwo unterbringen“, antwortet Franz Erwin Eiersebner. Wenn Wirte auf Flüchtlingsunterbringung umstellen, wandeln sich Dorfgasthäuser oder Frühstückspensionen mitunter zu Baracken. Die Bettenanzahl pro Zimmer wird verdoppelt, manchmal verdreifacht. Viele Menschen leben Tag und Nacht auf kleinstem Raum, dementsprechend leicht entstehen Schmutz und Schimmel.
Die Kritik an dem Quartier in Pama ist überraschend, weil es eines der beliebtesten ist. Bewohner haben auch Pflichten, dazu gehört das Putzen
Burgenlands zuständiger Landesrat Peter Rezar (SPÖ)
Als wir unsere Recherchen veröffentlichen, kommen die ersten Reaktionen aus den Bundesländern. In Salzburg verbreitet die zuständige Landesrätin Martina Berthold (Grüne) unsere Ergebnisse via Facebook und Twitter. Als einzige politische Verantwortliche war sie bereit, über die Zustände in ihrem Bundesland zu sprechen. Sie streitet die Missstände in Salzburg nicht ab, sondern nennt diese beim Namen.
In Niederösterreich herrscht erst einmal Stille. Am Tag nach der Veröffentlichung war niederösterreichischer Landesfeiertag, Ämter wie Behörden hatten geschlossen. Schließlich gibt die zuständige Landesrätin Kaufmann-Bruckberger folgende Stellungnahme ab: „Wir haben den Bericht gelesen und überprüfen die Vorwürfe. Wir haben ein Kontrollsystem, das sehr engmaschig ist, und werden den Vorwürfen nachgehen. Die humanitäre Hilfe der Bedürftigen, die um Asyl ansuchen, steht bis zur Entscheidung der Asylverfahren bei uns im Vordergrund.“
Im Burgenland nannte Wolfgang Hauptmann, Leiter des Referats für Grundversorgung, ausgerechnet das schlechteste Quartier der gesamten Recherche – die Unterkunft im burgenländischen Pama war schimmlig, Gas und Strom wurden rationiert, die Matratzen waren fleckig und zerrissen, die Bettrahmen teilweise gebrochen, kaputte Lampen werden den Asylwerbern vom Taschengeld abgezogen – im ORF eine „Top-Destination“.