Der »grünste Billa Österreichs«. Das »weltweit erste offiziell klimafitte Stadtquartier«. Ein Ikea-Möbelhaus als »Oase im Großstadtdschungel«, die die Nachbarschaft kühlt. Hinter all diesen nachhaltigen Versprechen rund um große Bauprojekte steckt ein Wiener Start-up: Die Firma Greenpass macht ihr Geschäft mit Umweltzertifikaten für begrünte Gebäude. Zu den Kund·innen zählen die Konzerne Rewe, Ikea, Signa und Strabag, aber auch die Stadt Wien. Greenpass bewertet, wie nachhaltig und klimaresilient – also an die Folgen des Klimawandels angepasst – Gebäude sind. Am Ende bekommen die Kund·innen ein Zertifikat in Grün, Silber, Gold oder Platin überreicht. Greenpass präsentiert sich dabei streng wissenschaftlich: Die Gründer·innen haben akademischen Hintergrund an der Universität für Bodenkultur (Boku) in Wien – Fachrichtung: Landschaftsarchitektur. Der Greenpass-Zertifizierung sei jahrelange Forschungsarbeit vorangegangen, darauf wird Wert gelegt.
Doch wie DOSSIER-Recherchen zeigen, steckt hinter den Zertifikaten auch eine große Portion Greenwashing – damit bezeichnet man PR-Maßnahmen, um Unternehmen nachhaltiger darzustellen, als sie sind: Zahlen werden bei Greenpass selektiv eingesetzt und Aussagen zugespitzt. Negative Umweltauswirkungen werden bei der Bewertung ausgespart. In einer grundlegenden Greenpass-Fallstudie fand DOSSIER grobe Fehler. Trotzdem bedienen sich nicht nur Privatfirmen, sondern auch die Stadt Wien intensiv der Greenpass-Zertifizierung. Der Wohnfonds Wien gibt bei großen Bauprojekten Greenpass mitunter sogar als Standard für private Bauträger vor. Auch das Klimaministerium kooperiert mit Greenpass im Rahmen des Programms Klimaaktiv, das den Zugang zu Förderungen erleichtert. Andere öffentliche Stellen nehmen hingegen Abstand: »Wir nutzen es in Graz nicht. Es kommt uns sehr kommerziell vor«, sagt Dominik Piringer, Stadtklimatologe der Stadt Graz.
Das Geschäft mit der Abkühlung
Greenpass hat sein Geschäftsmodell um das Konzept der Klimawandelanpassung aufgebaut. Mit diesem Begriff werden Maßnahmen zusammengefasst, die unsere Gesellschaft auf die Folgen des Klimawandels vorbereiten sollen. Wien muss sich etwa auf mehr und extremere Hitzetage einstellen. Eine mögliche Maßnahme, um die Hitze zu lindern, ist Begrünung. Weil die Folgen des Klimawandels in den vergangenen Jahren immer spürbarer wurden, steigt die Nachfrage. Dadurch sind auch Mikroklimasimulationen zum Geschäft geworden: Das sind Modelle, die zeigen sollen, wie sich Pflanzen auf den Dächern, an den Fassaden und zwischen Gebäuden auf die Temperatur in der Umgebung auswirken. Hier setzt Greenpass an – und das erfolgreich: Die Firma sticht durch gekonntes Marketing und beeindruckende Kühlungseffekte hervor. Doch wie DOSSIER-Recherchen zeigen, wird dabei mit irreführenden Zahlen gearbeitet.
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Bis zu 1,5 Grad Abkühlung der Lufttemperatur an einem Hitzetag bringe etwa das begrünte Ikea-Kaufhaus am Wiener Westbahnhof, behauptet Greenpass; bis zu minus 1,3 Grad soll René Benkos Kaufhaus am ehemaligen Leiner-Standort auf der Wiener Mariahilfer Straße liefern. Und sogar um bis zu 2,2 Grad kühle die Biotope City, ein Wohnprojekt der Stadt Wien im zehnten Wiener Gemeindebezirk, die Nachbarschaft. »Stadtklimaanlage« nennt Greenpass die durch das Unternehmen zertifizierten Gebäude. Doch DOSSIER-Recherchen legen nahe, dass die Effekte der Begrünung übertrieben dargestellt werden.
DOSSIER hat fünf Projekte genauer unter die Lupe genommen – so springen Sie direkt zu den Stellen im Artikel:
Wie Greenpass bei der »Stadtklimaanlage« trickst
Die 5,4 Hektar große Biotope City auf dem ehemaligen Coca-Cola-Firmengelände im Süden Wiens hat die höchste Greenpass-Auszeichnung bekommen, das Zertifikat in Platin. »Als Stadt Wien freuen wir uns natürlich über die Auszeichnungen«, schreibt ein Sprecher der zuständigen Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál auf Anfrage. Was er nicht dazusagt: So ein Zertifikat kostet. Mit rund 100.000 Euro schlägt eine Zertifizierung in dieser Größenordnung zu Buche. Die Begleitung der Biotope City sei im Rahmen von zwei Forschungsprojekten gefördert worden, so Greenpass. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Um bis zu 2,2 Grad soll die begrünte Biotope City die Luft in der Umgebung an einem Hitzetag abkühlen, werben Greenpass und die Stadt Wien. Diesen Wert halten nicht nur Experten für zu hoch gegriffen – das Areal sei viel zu klein, um die Luft dermaßen stark abzukühlen.
Auch der projektinterne Bericht von Greenpass, der DOSSIER vorliegt, vermittelt einen anderen Eindruck: Die Temperaturskala des Gebiets reicht von »-0,75 Grad und darunter« bis „0,75 Grad und darüber«. Der Wert des »thermischen Abluftstroms« lässt ebenfalls einen geringeren Kühlungseffekt vermuten: »Über den ganzen Luftraum betrachtet, kühlt die optimierte Planung im Peak das Nachbarquartier an einem Hitzetag um -0,108°C«. Wie passt das zur beworbenen »Kühlleistung« der Biotope City von 2,2 Grad?
![Temperaturkarte der »optimierten« Biotope City im Vergleich zum Zustand vor der Errichtung des neuen Wohnviertels](/fileadmin/_processed_/a/4/csm_temperaturbild-04_70de6631b9.jpg)
Greenpass klärt auf: Die 2,2 Grad seien »ein Maximum-Wert, punktuell, an gewissen Orten«. Sprich: Irgendwo auf dem Gebiet der Biotope City hatte die Simulation eine maximale Differenz von 2,2 Grad im Vergleich zum Urzustand des Areals ergeben. Unerheblich ist dabei, ob der Effekt aufgrund von Begrünung oder der baulichen Veränderungen zustande kam – also etwa Beschattung durch neue Gebäude. Im Durchschnitt sei der Temperaturunterschied aber natürlich viel geringer, so Greenpass.
Warum wird dann in der Werbung mit den extremen Ausreißern operiert? Gerade Politiker·innen stünden unter großem Druck, eindrucksvolle Zahlen zu liefern, argumentiert Geschäftsführer Florian Kraus. Also verwendet Greenpass Zahlen »provokativ«, wie es Kraus nennt. Man könnte auch sagen: Mit den Zahlen wird getrickst. Mitunter scheinen Greenpass-Werte völlig aus der Luft gegriffen: Gegenüber dem Standard behauptete Mitgründerin Doris Schnepf im Jahr 2017, dass in der Biotope City »die Lufttemperatur im Durchschnitt um 1,5 Grad gesenkt werden konnte«. »Diese Aussage stimmt nicht«, sagt Kraus heute.
![Greenpass-Geschäftsführer Florian Kraus und Wiens Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál bei der Präsentation des Wohnbauprojekts Biotope City. Quelle: PID / Votava](/fileadmin/_processed_/2/a/csm_OBS0047bw_99a38d9c1d.png)
Der Grazer Stadtklimatologe Piringer warnt vor überzogenen Versprechungen: »Was mir wehtut, gerade weil ich ein Verfechter von Begrünung bin: Mit diesen Argumenten fliegt uns das um die Ohren! Wenn diese Zahlen nicht haltbar sind, dann geht es in den gegenteiligen Effekt. Ich warne jeden, der sagt, es wird um drei Grad kühler – und nachher ist es gefühlt kaum kühler«, sagt Piringer.
Greenpass wehrt sich gegen Kritik der Irreführung: »Minimum- und Maximumwerte weisen wir in unseren Berichten sowie auch Kommunikationen (›bis zu‹) klar ersichtlich aus, weshalb von Überspitztheit der Ergebnisse und Irreführung in unserem Verständnis keine Rede sein kann.« Tatsächlich zeichnen die Berichte ein detaillierteres und teilweise auch ambivalenteres Bild – das Problem: Sie sind nicht öffentlich. In der Kommunikation nach außen spitzt Greenpass so weit zu, dass negative Aspekte verschwinden. In den plakativen Werbesujets, die Greenpass für seine Kund·innen erstellt, wird alle Aufmerksamkeit auf die Extremwerte aus der Simulation der Lufttemperatur gelenkt.
![Greenpass-Werbesujet für die Biotope City am Wienerberg (Quelle: Greenpass)](/fileadmin/user_upload/OBS0006-bw.jpg)
Kaufhäuser im Kälterausch
Auch beim Ikea-Kaufhaus am Wiener Westbahnhof wurde ordentlich zugespitzt: Um das Gebäude nachhaltiger zu machen, ließ der Möbelhändler 160 Bäume und Sträucher in Trögen an der Fassade und auf dem Dach des Möbelhauses platzieren. »An einem Hitzetag kann die Nachbarschaft dank der Begrünung um bis zu 1,5 °C abgekühlt werden. Dafür wurde das Gebäude bereits mit dem Greenpass-Platinum-Zertifikat ausgezeichnet«, wirbt Ikea. Die Darstellung führt mehrfach in die Irre: Zunächst handelt es sich wie bei der Biotope City erneut um einen zeitlichen und örtlichen Extremwert. Das heißt: Der Kühlungseffekt wurde in der Simulation an einer bestimmten Stelle und zu einer bestimmten Tageszeit so erzielt.
![Die Kühlleistung der Bäume und Sträucher an der Ikea-Fassade am Wiener Westbahnhof dürfte weit unter den beworbenen 1,5 Grad liegen.](/fileadmin/_processed_/b/b/csm_OBS_20211202_OBS0029_63d4f94cc5.jpg)
Ob die kühlende Wirkung der Pflanzen für Passant·innen jemals spürbar sein wird, ist noch aus einem anderen Grund fraglich: Ab einer gewissen Höhe kann Begrünung auf die Temperatur auf Straßenniveau keinen Einfluss mehr haben. Die meisten Bäume an der Fassade und auf dem Dach sind folglich zu hoch platziert. Schlussendlich erklärt Greenpass-Mitgründer Bernhard Scharf im Interview mit DOSSIER, dass die Bäume beim berechneten Kühlungseffekt – anders als beworben – eine Nebenrolle spielen: »Der Ikea wirkt vor allem wegen der Fassadenbauweise. Die Fassade ist strukturiert und komplett verschattet.«
Ähnlich ist es bei René Benkos neuem Kaufhaus auf der Mariahilfer Straße am ehemaligen Leiner-Standort: Durch Benkos Verkauf von Kika/Leiner, die Unternehmenspleite und die daraus resultierenden Massenkündigungen ist die Immobilie schon vor Eröffnung von Skandalen überschattet. Nun zeigt sich, dass das Gebäude auch grüner dargestellt wird, als es ist – und das mit tatkräftiger Unterstützung von Greenpass: Bis zu 1,3 Grad kühler soll es durch das Kaufhaus werden – insbesondere durch den öffentlichen Dachgarten –, erneut berechnet von Greenpass. Wie DOSSIER-Nachfragen zeigen: Dieser Wert könnte laut Simulation höchstens auf dem Dach erreicht werden – und auch hier nur an einer bestimmten Stelle. Denn schon vor dem Umbau befand sich auf dem Leiner-Kaufhaus ein Dachgarten des Eigentümers – bis auf einen Bereich, der künftig zusätzlich begrünt wird.
»Das Gute monetarisieren«
Die Firma Greenpass wird 2018 als Tochterfirma der Green4Cities GmbH gegründet, an beiden Firmen sind die Landschaftsarchitekt·innen Doris Schnepf, Bernhard Scharf und Florian Kraus beteiligt. Schon im ersten Jahr kann Greenpass Großprojekte mit der Stadt Wien (Biotope City, Eurogate II) und Ikea vorweisen. Über ein Crowdfunding sammelt Greenpass Anfang 2019 fast 300.000 Euro Kapital ein. Im Jänner 2022 beteiligt sich Unternehmer Hans Peter Haselsteiner mit rund zehn Prozent an der Firma – sein Bauunternehmen Strabag setzt ebenfalls auf die Greenpass-Zertifizierung.
Bis heute geht es für das Öko-Start-up steil bergauf: Mittlerweile hat Greenpass 25 Mitarbeiter·innen und nach eigenen Angaben mehr als 220 Projekte in zehn Ländern begleitet. In Europa sei man »vermutlich Marktführer«, sagt Geschäftsführer Scharf. Das Geschäftsgeheimnis von Greenpass deutet Gründerin Doris Schnepf schon in einem frühen Interview an: Wer nicht handfeste Zahlen, Daten und Fakten anbieten könne, stehe auf einem verlorenen Posten. Daher müsse man das Gute monetarisieren, zitiert sie der Standard 2017. Und noch ein Prinzip verrät Schnepf damals: »Im Ökobereich wird Geldverdienen oft als etwas Böses betrachtet. Aber wir können den Nachhaltigkeitsgedanken nicht vermarkten, wenn wir nur Bäume umarmen.« Kurz darauf gründet sie Greenpass: »Ich habe Lust auf unternehmerischen Erfolg«, sagt sie damals.
Bis heute hebt sich Greenpass von anderen Anbietern dadurch ab, dass die Firma ihren Kund·innen plakative Zahlen liefert. Auch wenn diese vereinfachten Darstellungen der komplexen Realität nicht immer gerecht werden.
Das »provokative« 4-Grad-Ziel
Greenpass glänzt mit großen Versprechen: »Greenpass ermöglicht die nachhaltige Reduzierung der Lufttemperatur von bis zu 4 °C«, verkündete die Firma 2019 auf der Suche nach Investoren. Aus klimatologischer Sicht ist das ein gewaltiger Temperaturunterschied.
Greenpass-Geschäftsführer Florian Kraus relativiert die Zahl im Interview: »Das ist natürlich ein bisschen provokativ verwendet, zu sagen: Hey, wir kühlen um vier Grad!« Außerdem: »Die Lufttemperatur ist ein ganz schlechter Indikator, denn so ein riesiges Luftvolumen ist irrsinnig schwer herunterzukühlen.« Aber warum operiert dann Greenpass just mit der Abkühlung der Lufttemperatur? »Weil es der Laie aus den Wettervorhersagen kennt«, sagt Kraus.
Die versprochenen vier Grad Temperaturunterschied habe Greenpass bisher noch in keinem seiner Projekte erreicht, sagt Kraus im Interview. In einer späteren schriftlichen Stellungnahme behauptet Greenpass dann etwas anderes: »Die Aussage, dass wir 4 °C noch nie erreicht hätten, stimmt nicht. Wir haben unsere Projekte nochmal durchgesehen und haben mehrere Fälle, wo dies erreicht wird. Weitere Dokumente dazu werden wir Ihnen nicht zur Verfügung stellen.«
Gold-Zertifikat für Supermarkt auf der grünen Wiese
Das Greenpass-Modell kommt an – vor allem bei Konzernen, die sich in der Öffentlichkeit nachhaltig darstellen wollen. Etwa beim Handelsriesen Rewe: 40 Billa-Supermärkte sollen bis 2024 von Greenpass zertifziert werden – also in puncto Nachhaltigkeit und Klimaresilienz geprüft. Das ist ein heikles Unterfangen, denn Supermärkte können für das Klima besonders schädliche Auswirkungen haben. Vor allem dann, wenn sie auf der grünen Wiese anstatt im Ortszentrum errichtet werden. Dabei wird wertvoller Boden zubetoniert, außerdem tragen die Märkte zur Zersiedelung bei und sorgen für mehr Verkehr, weil sie oft nur noch mit dem Auto erreichbar sind. Für Greenpass ist all das jedoch kein Hindernis, auch Supermärkte auf der grünen Wiese positiv zu zertifizieren.
Am 12. Oktober 2021 eröffnete Billa eine neue Filiale in Obdach in der Steiermark. Mit 600 Quadratmetern Verkaufsfläche und einem großen Parkplatz ist der Standort deutlich weitläufiger als die alte Billa-Filiale im Ortskern. Der Umsiedlung war eine politische Debatte vorangegangen, laut dem Bürgermeister hatte Rewe sogar mit der Abwanderung gedroht. Eine Bürgerinitiative hielt dagegen. Schließlich setzte sich Rewe durch, erhielt die Erlaubnis, auf der grünen Wiese zu bauen, und errichtete den angeblich »grünsten Billa Österreichs«.
Auf dem Dach: eine Photovoltaikanlage und ein abgestorbener Baumstamm als Insektenhotel; außerdem »extensive Begrünung von Dachflächen und Fassaden sowie der Außenbereiche und Parkplätze«, bewirbt Rewe den neuen Supermarkt auf der grünen Wiese. »Als Resultat all dieser ökologischen Maßnahmen erhielt der Standort in Obdach als weltweit erster Vertreter des Lebensmitteleinzelhandels eine Gold-Zertifizierung von Greenpass.« Vorerst wird der Handelskonzern auch der einzige zertifizierte Lebensmittelhändler bleiben, denn Greenpass hat mit Rewe einen Exklusivvertrag abgeschlossen.
Aber wie kann ein Supermarkt auf der grünen Wiese mit all seinen negativen Auswirkungen mit einem Umweltzertifikat ausgezeichnet werden? »Es kommt darauf an, welchen Bereich man sich anschaut: Wenn man einen Billa auf der grünen Wiese baut, dann wird dort sicher nachher ein besserer thermischer Komfort sein. Weil die Wiese vorher voll exponiert ist, da gibt es keinen Schatten«, sagt Kraus. Auswirkungen wie Zersiedelung oder der Bodenverbrauch im Vorher-nachher-Vergleich wurden bei der Bewertung nicht berücksichtigt. »Es gibt keinen verpflichtenden Vorher-nachher-Vergleich in der Zertifzierung. Diese Zusatzleistung kann der Kunde optional wählen«, schreibt Greenpass in einer Stellungnahme. Für diesen – für Rewe unvorteilhaften – Vergleich mit der grünen Wiese müsste Rewe also extra zahlen.
»Die besten Projekte sind die, die nie gebaut werden«, schreibt Greenpass. Aber: »Der Bereich der Raumordnung, den Sie zu Recht kritisieren, fällt in den Fachbereich Raumordnung. Wir können mit unserer Zertifizierung lediglich dazu animieren, so wenig wie möglich zu versiegeln und Begrünung und Biodiversität möglichst viel Raum zu geben.« Und: »Wir kommunizieren klar, was wir tun und was wir nicht tun.« Doch Letzteres stimmt so nicht: Dass Greenpass bei den Supermärkten zwei aus Umweltsicht ganz zentrale Auswirkungen – den neu versiegelten Boden und die Zersiedelung – nicht miteinbezieht, wird eben nicht klar kommuniziert. Stattdessen darf sich Rewe gegen Bezahlung mit den Umweltzertifikaten schmücken und mithilfe von Greenpass einen Supermarkt auf der grünen Wiese als »nachhaltiges Vorzeigeprojekt« feiern.
Weltweite Ambitionen
All das soll erst der Anfang sein, Greenpass hat größere Ziele: »Die Nachfrage ist natürlich global gegeben. Wir haben die Technologie von Anfang an für eine weltweite Anwendung entwickelt«, sagte Kraus bereits 2019. Mit dem »EU Taxonomy Check« hat sich Greenpass für die 2022 in Kraft getretene EU-Taxonomie-Verordnung in Stellung gebracht. Mit diesem Regelwerk will die EU Investitionen in nachhaltige Projekte und Aktivitäten lenken. Und Greenpass wäre künftig gerne eine jener Institutionen, die bewerten dürfen, welche Projekte aus Sicht der EU nachhaltig sind und welche nicht.
Gelingen soll die internationale Expansion durch eine Art Franchisesystem: »Unser Businessmodell basiert auf einem Lizenzpartnersystem für Planer und Architekten, um den Service lokal zu vertreiben, und zwar in jedem Land. Wir haben hier einen Grundkurs geschaffen, wodurch jeder zum Klimaarchitekten werden kann«, so Kraus. Urban Climate Architects nennt Greenpass die Absolvent·innen. Vorkenntnisse sind nicht notwendig, der dreitägige Kurs kostet 1.500 Euro und kann online absolviert werden – per Video-on-Demand. »Diese Ausbildung leisten wir, damit unsere Lizenzpartner in der Folge autonom die Services anwenden können«, so Kraus.
50 solcher Urban Climate Architects seien bereits tätig. Doch wie stellt Greenpass die Qualität sicher, wenn Personen ohne tiefere Fachkenntnisse mit wissenschaftlichen Modellen hantieren? »Die Analytik läuft auf unseren Servern, die Ergebnisse haben wir im Griff«, sagt Geschäftsführer Scharf. »Bis jetzt ist auch die Zertifizierung noch bei uns im Haus. Wir haben schon einmal diskutiert, ob das auch zu den Partnern wandern soll. Das werden wir sehen. Einstweilen bleibt das bewusst bei uns, um die Qualitätssicherung sicherzustellen und Missbrauch zu vorzubeugen«, ergänzt Kraus. Doch Fehler konnte Greenpass in der Vergangenheit auch im eigenen Haus nicht ausschließen. DOSSIER stieß bei der Recherche auf grob falsche Angaben in einer grundlegenden Fallstudie von Greenpass.
Grobe Fehler in der Seestadt
Die Seestadt Aspern im Osten Wiens ist mit 240 Hektar eines der europaweit größten Stadtentwicklungsgebiete. Bei einem zentralen Teil, dem Quartier Seeterrassen, ist Greenpass schon ganz zu Beginn an Bord: Mit einer sogenannten »Pre-Certification« analysierte, bewertete und verglich Greenpass die unterschiedlichen Entwürfe im Bauwettbewerb in Bezug auf ihre mikroklimatischen Auswirkungen. Die Greenpass-Bewertung diente der Jury und dem Auslober des Wettbewerbs als Entscheidungsgrundlage. Doch nicht nur das: Die Greenpass-Untersuchung der Seeterrassen war auch Grundlage für eine großangelegte Studie des Klimaministeriums mit dem Titel »Grüne und resiliente Stadt«. Darin werden »Steuerungs- und Planungsinstrumente für eine klimasensible Stadtentwicklung« untersucht und etwa auch das Potenzial von Fassadenbegrünungen ermittelt. Das Problem: In der zugrundeliegenden Greenpass-Untersuchung finden sich grob falsche Zahlen und Fehler.
![Greenpass führte in der Seestadt Aspern eine »Pre-Certification« durch, dabei passierten grobe Fehler.](/fileadmin/user_upload/onlinestories/aspern-seestadt-von-oben__1_.jpg)
In der DOSSIER vorliegenden »Pre-Certification« wird etwa die Verdunstungsrate unterschiedlicher Szenarien verglichen: Die Zahl gibt an, wie viel Wasser auf dem Gebiet in einer gewissen Zeit verdunstet – das hat wiederum Einfluss auf die Temperatur. 435,58 Tonnen pro Sekunde gibt Greenpass in einem der Szenarien als Verdunstungsrate an. Entspräche das der Realität, würde der gesamte Jahresniederschlag innerhalb kürzester Zeit verdampfen. Der Wert ist etwa um den Faktor 1.000 zu hoch. Auf Nachfrage räumt Greenpass den Fehler ein, er sei bei der Berichtserstellung passiert: Man habe in der Grafik irrtümlich Tonnen statt Kilogramm verwendet. Doch die Erklärung wirft eine neue Frage auf: Denn demnach hätte sich die Verdunstungsrate des Gebiets nach der Begrünung durch Greenpass verschlechtert – kann das stimmen? Doch es ist nicht der einzige grobe Fehler in dem Bericht.
Neben der Verdunstungsrate ist auch die thermische Speicherfähigkeit eine zentrale Kennzahl für das Mikroklima: Der Wert gibt an, wie stark sich der Boden oder die Wände erwärmen, etwa wenn die Sonne darauf scheint. 76 beziehungsweise 106 Joule gibt Greenpass für zwei Szenarien in der Seestadt an. Damit würde das Gebiet um ein Vielfaches weniger an Energie speichern, als notwendig ist, um einen Liter Wasser um ein Grad zu erwärmen.
Die Fehlerserie geht weiter: Greenpass hat seine Simulationsauswertungen in dem Bericht zur falschen Zeit durchgeführt. Wie ein anderer Projektteilnehmer bemerkt, stimmen die Schattenwürfe in der Greenpass-Simulation nicht mit der angegebenen Lokalzeit überein. Die Simulation dürfte für etwa 17 Uhr und nicht wie angegeben 15 Uhr durchgeführt worden sein. Auch das verfälscht die Ergebnisse.
»Fehler können passieren«, schreibt Greenpass auf Anfrage. Die Wettbewerbsunterlagen hätten der Jury des Bauwettbewerbs »als Ranking zur Relativierung der Ergebnisse gedient«. Aber: »Ein Planungsszenario, welches um 17 Uhr besser ist als ein anderes (...), ist dies auch um 15 Uhr.« Zu den falschen Zahlen in dem Bericht schreibt Greenpass: »Wir können (...) ausschließen, dass sich dieser menschliche Fehler in der Publikation fortgeführt hat; (...) da eine um das Tausendfache zu hohe Evapotranspiration oder thermische Speicherfähigkeit klar sichtbare Auswirkungen auf die Karten und andere Indikatoren gehabt hätte.« Mittlerweile seien die Fehler korrigiert und der interne Arbeitsbericht aktualisiert worden.
Und was sagt das Klimaministerium dazu, das die Studie finanziert hat? Die Sprecherin von Ministerin Leonore Gewessler hält Greenpass die Stange. Man habe mit den Studienautor·innen der Boku telefoniert und bei Greenpass nachgefragt: Die Macher der Studie würden es ausschließen, dass die Ergebnisse der Studie verfälscht wurden. Eine unabhängige Prüfung der Forschungsergebnisse hält das Klimaministerium nicht für notwendig. Das Klimaministerium kooperiert bereits seit längerem mit Greenpass: Seit 18. Oktober 2021 können Greenpass-Bewertungen direkt in dem »Klimaaktiv«-System des Ministeriums angerechnet werden – damit wird die Nachhaltigkeit von Gebäuden bewertet und der Zugang zu Förderungen erleichtert. Der zuletzt mit 410 Millionen Euro dotierte Klima- und Energiefonds des Ministeriums residiert übrigens an der gleichen Adresse wie Greenpass.
Überbewertete Fassadenbegrünung?
Gegenstand der Studie »Grüne und resiliente Stadt« ist auch das Potenzial von Fassadenbegrünung für die Klimawandelanpassung. Deren Effizienz ist ist in der Fachwelt nicht unumstritten. »Das ist eine überbewertete Maßnahme. Im Vergleich zu einem Baum hat die Fassadenbegrünung nicht den entsprechenden Effekt auf die Umgebung, da kommt man leider immer mehr drauf«, sagt etwa der Grazer Stadtklimatologe Dominik Piringer. Der Linzer Stadtklimatologe Johannes Horak argumentiert ähnlich: »Dach und Fassadenbegrünung sehen wir nicht als das zentrale Instrument für die Beeinflussung des Mikroklimas«, sagt er. »Da ist der Baum viel effizienter. Einerseits durch die Beschattung und andererseits durch die Verdunstung.«
Greenpass hält dagegen: »Die Bäume werden momentan sehr gehypt, das ist auch in Ordnung. Aber man darf nicht eine Grünmaßnahme gegen die andere ausspielen«, so Geschäftsführer Scharf. Es gebe unberechtigte Vorurteile gegenüber Fassadenbegrünung, etwa dass diese zu aufwendig sei. Vielen Landschaftsarchitekt·innen mangle es beim Thema Fassadenbegrünung noch an Expertise. Doch Kraus und Scharf haben bei dieser Frage auch geschäftliche Eigeninteressen: Beide halten, wie auch Geschäftspartnerin Doris Schnepf, Anteile an der Naturebase GmbH – und verkaufen darüber Paneele für Fassadenbegrünung.